Innehalten – Jetzt! – von Anna

Innehalten - Jetzt! zu Zeiten von Corona

Ich gebe es zu. Ich habe auf diese kollektive Entschleunigung gewartet. Seit ungefähr zwei Jahren bin ich aktiv damit beschäftigt mein Leben zu verlangsamen und die Dinge, die ich tue in Ruhe und ohne Stress zu tun. Das ermöglicht mir immer mehr herauszufinden, was mir wirklich wichtig ist und mit was ich meine Zeit verbringen möchte.

Ich glaube, diese Krise ist eine riesige Chance für uns alle. Nichts wird mehr so sein wie vorher und ich für meinen Teil möchte die Situation jetzt für weise und nachhaltige Entscheidungen und Weichenstellungen nutzen.

Alles muss sich ändern – sofort?

Wir Freiberufler sind hart getroffen in der aktuellen Situation. Ich sehe wie Angebote und Tutorials für Onlinekurse in den vergangenen zwei Wochen aus dem Boden schießen (meinen gibt es ja schon seit Januar ;-). Jeder Gesangspädagoge, Musiklehrer, Coach und Trainer möchte sofort auf Skype- oder Zoomunterricht umsteigen und alle Probleme sollen am Besten auf der Stelle gelöst werden. Natürlich handeln einige von uns aus der Not heraus.

Finanzielle Rücklagen haben die wenigsten Kreativen und natürlich müssen Lösungen gefunden werden, wie wir weiter arbeiten können. Und ich finde es ganz großartig, auf was für innovative Ideen die Menschen kommen.

Trotzdem scheint mir die ein oder andere Aktion übers Knie gebrochen zu. Ein Schnellschuss aus Angst den Anschluss zu verlieren. Nicht so gut aufgestellt zu sein, die Kontrolle zu verlieren. Eine Chance zu verpassen.

Wo willst Du hin?

Auch in mir gibt es einen Teil, der da gerne mitmachen möchte. Schnelle Sicherheit suchen in unsicheren Zeiten. Aber es gibt auch einen ganz anderen Teil in mir. Den, der sagt: Halt. Stopp. Warte.

Wo willst Du hin? Warum die Eile? Setz Dich doch erstmal in Ruhe hin und atme. Halt inne.

Was suchst Du da im Dschungel der Möglichkeiten? Wo bist Du in all dem? Was ist Deine Motivation? Ist es die Angst? Wovor hast Du Angst? Welches tieferliegende Bedürfnis verbirgt sich hinter dem Wunsch schnell die Lösung für alle Probleme zu finden?

Durcheinander

Improvisation ist ja ein wichtiger Teil meiner Arbeit und jetzt gerade scheint es mir, als würden alle wie wild durcheinander singen, dudeln und tönen. Jeder macht sich bemerkbar, um bloß gehört zu werden. Alle tönen gleichzeitig. Dabei gäbe es soviel Potential für echte Begegnung, Beziehung, Kontaktaufnahme.

Wer Erfahrung mit Improvisation hat, weiß, dass Musik im Moment nur entstehen kann, wenn wir beginnen zu lauschen.

Nach innen – was möchte gesagt werden?

Nach außen – wo ist mein Platz, worauf möchte ich mich beziehen?

Dazwischen – wo verbinden sich innen und außen, wo ist das Kontinuum, das kein Innen und Außen kennt?

Ungewissheit aushalten

Ist dieser Aktionismus – vielleicht bin ich ja auch die Einzige, die das so wahrnimmt? – nicht auch wieder Ausdruck unserer Gewohnheit, das Unbekannte nicht auszuhalten? Versteht mich nicht falsch. Ich bin kein Freund davon, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken und in Angst zu erstarren. Überhaupt nicht.

Die Frage ist nur, ob es nicht sinnvoll wäre, kurz mal nach innen zu lauschen. Der Raum des Nicht-Wissens spielt in meiner Arbeit eine große Rolle und immer, ja wirklich immer, ist das Aushalten, das wirkliche Erleben des Ungewissen der Schlüssel zur Kreativität, zur echten Potentialentfaltung und zu tiefergehender Arbeit.

Raum schaffen

Natürlich lösen sich nicht sofort alle Fragen in Luft auf, nur weil wir uns erlauben, ins Ungewisse hinein zu lauschen. Es bleibt ein Suchen und sich Vortasten. Aber es ist wichtig, dass wir uns dafür Raum geben. Dass wir uns Luft verschaffen und nicht einfach wie wild losrennen und auf allen Baustellen gleichzeitig werkeln.

Besonnenheit scheint mir gerade eine wichtige Qualität. Und Akzeptanz. Nur wenn wir aus tiefstem Herzen die Situation annehmen, uns wirklich darauf einlassen, können wir nach vorne schauen und dann losgehen mit dem was ist.

Neue Wege finden

Wenn wir jetzt die Chance nutzen nach innen zu lauschen, kann daraus ganz Neues entstehen. Wenn wir alles machen wie bisher, nur auf anderen Plattformen, in anderen Medien, wird alles bleiben wie es war.

Klar, das ist jedem selber überlassen. Wer bisher zufrieden war, möchte ja eigentlich gar nichts verändern.

Aber lasst uns doch mal hinterfragen, was jetzt möglich ist. Lasst uns nicht einfach den Unterricht auf online umstellen. Lasst uns schauen, worin das Geschenk liegt. Wir müssen und können neue Lösungen finden. Die aktuellen Einschränkungen bieten soviel Potential.

Eigenverantwortung

Keine Zoomkonferenz ersetzt einen direkten 1-zu-1-Unterricht. Technische Herausforderungen müssen gemeistert und neue Arbeitstechniken gefunden werden. Schüler sind jetzt mehr auf ihre eigene Wahrnehmung angewiesen und mehr in ihrer Eigenverantwortung gefordert.

Das Verhältnis von Lehrer und Schüler verändert sich. Lernen verändert sich. Das ist großartig! Lass uns diese und viele andere Dinge nicht übergehen, sondern ganz bewusst wahrnehmen und wertschätzen. Dann ist Lernen und Entwicklung auf verschiedenen Ebenen möglich. Und davon wird dann auch unser Unterricht und unser Leben darüber hinaus in Zukunft profitieren.

Was möchte und brauche ich wirklich?

Und ich möchte auch alle Kollegen und auch Schüler dazu ermutigen, sich jetzt auf ihre eigenen, wirklichen Bedürfnisse zu besinnen und diese auch zu kommunizieren.

Was brauche ich jetzt? Brauche ich eine kleine Abwechslung im Alltag? Brauche ich emotionale Begleitung? Stimmliche Beratung? Konkrete Übungen? Was für Umstände brauche ich, um mich gut und sicher zu fühlen und das, was ich tue, als sinnvoll und bereichernd zu erleben?

Und für alle Kollegen:
Was ist das, was ich jetzt zu geben habe? Was macht mich und meinen Unterricht aus? Wo kann ich Räume schaffen, die meinen Schülern wirklich dienlich sind? Lasst uns da mutig sein und auch mal über den Tellerrand des bisher Bekannten hinaus denken.

Tiefgang braucht Zeit

Ich selber merke auf jeden Fall, dass ich Zeit brauche. Zeit brauche mich zu besinnen und dann dorthin zu lauschen, wo wirkliche Antworten herkommen. In meiner Arbeit und in meinem Leben ist es schon lange und immer wieder Thema, die Dinge nicht auf der Oberfläche abzuhandeln.

Erlebnisse, die mich und auch meine Schüler und Kursteilnehmer auf tieferen Ebenen berühren, werden immer wichtiger. Solche Erlebnisse eröffnen uns einen inneren Zugang zu dem Teil in uns, der unerschütterlich ist.

Der andere Ort

Durch keine Krankheit, keine Krise, keine Ängste werden wir an diesem Ort verunsichert. Hier sind wir ganz wir selber und dort schlummert unser wahres Potential. Von diesem anderen Ort aus zu handeln fühlt sich so anders an. Von diesem Ort aus zu singen, klingt so anders.

Von diesem Ort aus seine Stimme in der Welt zu erheben, ist mutig und mühelos zugleich. Konkurrenz spielt keine Rolle mehr und es gibt keine verpassten Gelegenheiten.

Dieses Handeln ist das, was die Welt jetzt gerade braucht. Sind wir innerlich mit unserer Essenz verbunden, ist respektvolles, menschliches Handeln keine Frage. Neue innovative Ideen können daraus erwachsen und jeder Einzelne kann durch seine Einzigartigkeit die Welt bereichern.

Alles hat seine Zeit, wenn wir in unserm eigenen Tempo voranschreiten. Die Welt legt gerade eine Vollbremsung hin und jeder von uns hat jetzt die Chance sich zu fragen, in welchem Tempo und wohin wir eigentlich unterwegs sind.

Nutzen wir den Moment um innezuhalten. Jetzt.

Alles Liebe wünscht
Anna Stijohann

Dieser Artikel erschien zuerst auf Stimmsinn.de

Die Kreative ist…

Anna Stijohann

stimmsinn.de

Anna ist Sängerin und staatlich geprüfte Musikpädagogin. Sie gibt Gesangs- und Stimmbildungsunterricht für alle Levels, vom Anfänger bis zum Profi. Zudem leitet sie Chöre und Gruppen und arbeitet mit diesen zu verschiedensten Themen (u.a. Interpretation und Improvisation, Musik und Theater, Klangfarben und Phrasierung im Jazz-/Pop- und Musicalbereich). Ihre größte Neugier liegt im Bereich Atem-, Stimm- und Körperarbeit.

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2 Kommentare

  • Liebe Anna,
    dein Bericht stößt bei mir auf ganz große Resonanz und berührt mich sehr. Danke!!
    Auch ich bin dabei, mich mit den digitalen Möglichkeiten zu beschäftigen. Dabei bemerke ich immer wieder ein Zaudern und frei nach norddeutscher Sitte: gemach gemach erstmal ein Tässchen Tee!
    Ich werde eine zweite Tasse Tee wagen !

    Mit lieben Grüßen Felicitas

    • Liebe Felicitas, vielen Dank für Deinen Kommentar. Es freut mich sehr, wenn Menschen mir rückmelden, dass es ihnen genauso geht und ihnen meine Gedanken hilfreich und wertvoll sind. Zu wissen wir sind nicht allein und uns gegenseitig zu ermutigen ist für in dieser besonderen Zeit so wichtig! Alles Liebe für Dich! Anna

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