Manchmal braucht es einen Schock, um zu verstehen

Nach einer Vollnarkose wird mir klar, dass ich keine Ahnung von Bewusstsein habe. Es ist ein heilsamer Schock, der mir ein neues Rätsel aufgibt: Hat jemand, der nichts weiß - ein Hund, eine Ameise, eine Samarpan - Buddha-Natur?
Über den heilsamen Schock einer Vollnarkose

Kurz vor der Vollnarkose, im Vorbereitungsraum liegend, bin ich noch guter Dinge. Zuversichtlich und gespannt frage ich mich, ob sich neben Bewusstheit auch Bewusstsein von der Narkose ausknocken lassen wird? Als mir die Ärztin den dunklen Stoff in die Ader schießt, fühle ich die Schwärze über den Arm in die Wirbelsäule und von da direkt in den Hinterkopf und ins Gehirn fließen. Dann:

AUS – NICHTS – ENDE.

 AUS – NICHTS – ENDE… auch mit meinen Träumen von Bewusstsein. Keinerlei Bewusstsein ist gegenwärtig während der Vollnarkose. Was sagt mir das?

  1. Das, was ich für Bewusstsein hielt, ist ganz und gar mit dem Körper verbunden.
  2. Das, was jenseits vom Körper ist, habe ich nicht kennen gelernt.
  3. Es ist Zeit, aus den Träumen über Bewusstsein aufzuwachen.
  4. Jetzt weiß ich, dass ich nichts weiß.

Die heilsame Wirkung eines Erkenntnis-Schocks

Manchmal kann ein Schock heilsam sein. In diesem Fall habe ich durch die Schwärze der Gehirnbetäubung erkannt, dass sich Vorstellungen und Fantasien über Meditation eingeschlichen hatten, die mir eine Vorstellung von ‚ich weiß es‚ oder ‚ich bin schon da‚ oder zumindest ‚ich habe eine kleine Ahnung‚ gegeben hatten. Man nennt das auch Verblendung, spirituelles Ego oder schlichtweg Träumen.

Ok. Soweit so gut. Das Mysterium des Lebens ist also noch nicht entschlüsselt. Prima, es warten noch Abenteuer in meinem Leben.

Weiterhin mit der Frage beschäftigt, was Bewusstseins ist, erfahre und erkenne ich mich morgens als kleine Ameise im großen Spiel des Lebens… Ein unbedarftes Wesen, das von der Natur bewegt wird. Die große Macht, die mich geboren hat, die mich auf die Reise schickt, mich zur Fortpflanzung bewegt, nimmt dann irgendwann das verbrauchte Leben wieder zu sich zurück.

Zur menschlichen Vergnügung ist mir ein Verstand gegeben worden, deameise-samarpanr denken kann, der sich Vorstellungen macht und der sich für stark genug hält, die Kontrolle zu behalten. Wie lächerlich. Und dabei bin ich nur eine kleine Ameise in der Hand einer großen Kraft, einer großen Welle, die mich bewegt.

Es ist ein beruhigendes Gefühl, keine wirkliche Kontrolle zu haben. Sehr entspannend. Als Ameise mache ich, was Ameisen eben so tun: Ich arbeite viel, oft auch tänzelnd, erforsche neues Gebiet und lebe mein kleines, vorgegebenes Leben als Ameise in ganz normaler Ameisenart.

Hat eine Ameise Buddha-Natur?

Und wie ist das nun mit Bewusstsein? Was ist Bewusstsein? Habe ich es schon erfahren oder waren die Erfahrungen nur Träume einer Ameise? Es gibt einen Koan, eine Art spirituelles Rätsel, den ich schon oft hörte, doch der bisher nie von Bedeutung war. Jetzt beantwortet er vielleicht meine Frage nach Bewusstsein:

Ein Mönch fragte Joshu:
„Hat ein Hund (Ameise) die Buddha-Natur oder nicht?“
Joshu antwortete: „Mu!

 

Mu ist ein Wort, das man im Deutschen ungefähr mit ‚nicht(s)‘ oder ‚ohne‘ übersetzen kann.
Mu auf Wikipedia

„Mumons Kommentar:

(…) Wenn du durch diese Barriere hindurch möchtest, so musst du mit jedem Knochen deines Körpers, mit jeder Pore deiner Haut arbeiten, immer erfüllt von dieser Frage: Was ist Mu? und sie Tag und Nacht mit dir herumtragen.

Glaube nicht, es sei dies das übliche negative Symbol, das einfach „nichts“ bedeutet. Es ist nicht das Nichts, das Gegenteil von Existenz. Wenn du wirklich diese Barriere überwinden willst, so musst du das Gefühl haben, als würdest du eine heiße Eisenkugel verschlucken, die du weder verdauen noch ausspucken kannst.

Dann verschwindet dein früheres minderwertiges Wissen. Wie eine Frucht im Sommer reift, so werden deine Subjektivität und deine Objektivität auf natürliche Weise eins werden. Es ist so, wie wenn ein Stummer einen Traum hatte. Er weiß es, aber er kann ihn nicht erzählen. (…)

Ich will dir erzählen, wie man das mit diesem Koan erreicht:
Konzentriere deine ganze Energie auf dieses Mu und lasse keine Unterbrechung zu. Wenn du in dieses Mu eintrittst, und es erfolgt keine Unterbrechung, so wird dein Erfolg wie eine brennende Kerze sein, die das ganze Universum erleuchtet.“

„Dies ist die ernsteste aller Fragen.
Sagst du ja oder nein, so verlierst du deine eigene Buddha-Natur.“

Paul Reps: Ohne Worte – ohne Schweigen,
gefunden auf www.joshushund.com

Mu - der große Koan

Mu – Zen Kalligraphie

MU! Die Antwort.

Ok, ok. Verstanden. So einfach ist das mit dem Bewusstsein also nicht, als dass ich es hier beschreiben könnte. Wie Paul Reps schreibt, verliere ich jeglichen Zugang zu Bewusstsein, wenn ich versuche, es zu beschreiben. Die Ameisen-Natur kann nur erfahren werden, nicht beschrieben. Zumindest nicht von mir.

Der Schock des Nicht-Wissens, den mir die Vollnarkose bescherte, war sehr heilsam. Ich bin zurück, da wo ich hin gehöre, in mein Ameisenwesen, in mein natürliches Menschsein, das die Größe der Existenz nicht begreifen kann und doch manche dankbaren Momente kennt:

Dann, wenn der Ozean in die Ameise schwappt.

 

Manchmal braucht es einen Schock, um zu verstehen

5 Kommentare

  • Hallo Samarpan,
    auch eines der großen Rätsel für mich, wer wahrnimmt, wenn’s diesen der wahrnehmen sollte nicht mehr in seinem Körper gibt.
    Ich höre ja immer wieder, dass das einzige was wir mitnehmen können aus diesem Leben „Awareness“ sein soll, bloß, wer nimmt wahr? Und womit, wenn die Sinne verschwunden sind?
    Das einzige, wozu ich Zugang habe ist das Beobachten des Verstandes in z.B. der Vipassana und nicht identifiziert sein mit ihm. Also Aufmerksamkeit auf den Atem.
    Ich kann mir ja auch sagen, dass ich nicht der Körper bin und der Verstand auch nicht ich bin.
    Bin ja auch nicht mit dem Verstand in die Welt gekommen.
    Und wenn sich das alles auflöst bleibt vielleicht oder wird wahrgenommen Aufmerksamkeit.
    Keine Ahnung, und solange ich die nicht habe kann ich nur weiter beobachten, mehr weiß ich nicht, das tut mir gut und was kommt kenne ich nicht, mal schauen…

    • Hallo Premdharma,
      du beschreibst genau wie es mir auch geht. Manchmal besteht das Empfinden, als ob nur noch das Leben selbst besteht, doch wenn ich genauer hinschaue, dann ist auch dieses Empfinden wieder an den Körper gebunden. Na gut. Da es ja auch guttut, wahrzunehmen und sensibel zu sein, geht die Reise eben so weiter. Mal schaun :)!

  • Liebe Samarpan, bei der Narkose wird das künstlich herbeigeführt, was mit dem Bewusstsein tagtäglich passiert, wenn wir in den Tiefschlaf hinübergleiten. Der Verstand, der notwendige Voraussetzung für Bewusstsein ist, „faltet sich zusammen“, er funktioniert nicht mehr, und es sind keine Gedanken mehr da, auch kein Gedanke „Ich bin“. Erst nach dem Aufwachen wissen wir wieder“ich bin“ und „ich habe (gut) geschlafen“. Während des Tiefschlafs ist nur Nichtwissen da und ein Wohlgefühl wegen der Abwesenheit von Bedürfnissen. Bewusstsein ist immer da, aber ohne den Verstand manifestiert es sich nicht. Erst wenn die Gedanken wieder einsetzen, wenn der Verstand nach der Narkose wieder funktioniert, kann erinnert werden „ich war total weggetreten“ oder ähnliches. Und es kann nur erinnert werden, weil etwas da war, was während der ganzen Zeit bewusst war.

    • Lieber Franz, vielen Dank für den freundlichen und erhellenden Kommentar. Nachdem ich diesen Artikel geschrieben hatte, ist mir selbst aufgefallen, dass ich ja jeden Abend in eine Art ‚Narkose‘ falle, dann wenn ich schlafen gehe. Du schreibst: Während des Tiefschlafs ist nur Nichtwissen da und ein Wohlgefühl wegen der Abwesenheit von Bedürfnissen. Ein Wohlgefühl kann ich jedoch währenddessen nicht feststellen, da mein Verstand nicht anwesend ist. Nur nachher, am Morgen fühle ich mich gut.
      Später schreibst du: Und es kann nur erinnert werden, weil etwas da war, was während der ganzen Zeit bewusst war. Das genau ist meine Frage. Was ist es, das die ganze Zeit bewusst ist? Und ich habe die Antwort: MU!
      Hast du eine bessere?

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